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Jorinde Voigt, Hauro (I), 2015, diverse Materialien auf Papier, Courtesy the artist

Komplexe Systeme

Jorinde Voigt, Berlin / Gabriela Löffel, Genf und Bern

So 26.06. | 14:00 Uhr

AUSSTELLUNG VON FR 13.05. – SO 26.06.

Ein System wird als Zusammenstellung von Elementen verstanden, die durch Wechselbeziehungen ein Gefüge mit gemeinsamer Funktion bilden. Lange war das binäre System im westlichen Denken vorherrschend und prägte mit seiner reduktionistischen Logik gesellschaftliche wie biologische Modelle. Nach dem Gesetz der Spiegelung versucht es, die Welt in hierarchischen Strukturen abzubilden. Das Eine wird zwei, aus der Wurzel wird ein Baum, so haben es Gilles Deleuze und Felix Guattari in Tausend Plateaus beschrieben.

Heute werden neue Formen der Herstellung von Zusammenhängen erprobt, die Denken, Bewusstsein und politische Formationen als mannigfaltig und komplex hervorbringen.
In Deleuzes / Guattaris Vorschlag des Nebenwurzel-Systems lassen expandierende, erobernde Fluchtlinien azentrische Gefüge entstehen. Bruno Latour hat das Denken der Moderne dem Zergliederungsmodus der Kritik zugeordnet, der seit der Aufklärung Natur- und Kulturwissenschaften prägt. Für unsere Zeit hat er einen „kompositorischen Modus“ vorgeschlagen, der Dinge und Menschen in Netzwerken versammelt, um ein Zusammenleben mit der Erde und untereinander nachhaltig zu gestalten.

Die Ausstellung Komplexe Systeme zeigt zwei künstlerische Positionen, die unterschiedliche Systeme auf jeweils eigene Weise befragen und Komplexität für ihre Kunst produktiv nutzen. Dabei wird deutlich, dass an der Haltung der Kritik orientierte Modelle ebenso generativ schaffen und kompositorische Modelle auch zergliedern können. Komplexe Systeme folgen nicht-linearen Entwicklungsdynamiken und sind weder durch sich selbst noch durch andere Instanzen völlig erfassbar.

Jorinde Voigt, Berlin
Vielfältige Phänomene der kulturellen Umwelt wie Temperaturverläufe, akustische Impulse, Windrichtungen, die Farbwerte einzelner Pflanzen oder Inhalte philosophischer Texte unterzieht Jorinde Voigt (*1977) einer systematischen Analyse. Die daraus gewonnenen Parameter verdichtet die Künstlerin durch dynamische Strichfolgen, turbulente Linienschwünge oder collagierte Farbflächen zu abstrakt diagrammatischen Notationen.
Durch den Zeichnungsvorgang entstehen – den Gefügen von Deleuze und Guattari verwandt – komplexe, vom persönlichen Denk- und Vorstellungsraum der Künstlerin geprägte Beschreibungen heterogener Phänomene der Welt.
Voigts Diagramme legen die systemeigenen Operationen dieser Phänomene nur bedingt offen, verweisen vielmehr auf ihr kreativ-zeugendes Potenzial. Die Sinneseindrücke aus einer speziellen Körperhaltung registrierend, schafft sie Zeichnungen von grosser Komplexität. Als Serien kartografieren sie Welt als offenen Informationsfluss und verdeutlichen die potenzielle Unendlichkeit der Mannigfaltigkeitsproduktion.

Mittels eines über Jahre hinweg entwickelten Zeichensystems versucht die Künstlerin ein über viele Stufen vermitteltes, doch direktes Abbild der erlebten Wirklichkeit mit analytisch-zeichnerischen Mitteln zu schaffen. Oftmals greift sie bei ihrer Suche nach operativen Formen der Zeichnung auf Algorithmen, d. h. auf ein Verfahren zur schrittweisen Umformung von Zeichenreihen zurück, um Verläufe in einer räumlichen Ordnung darzustellen. Sie lässt sich dabei von spontanen Entscheidungen leiten und schreibt den algorithmisch präzis definierten Strukturen durch Zufall ein Moment der Freiheit ein.

Die grafischen Markierungen dieses persönlichen Zeichensystems sind für Jorinde Voigt eine visuelle Grammatik, mit der sie Phänomene und Erfahrungen ordnen und durch Übersetzung einer neuen Betrachtung zugänglich machen kann. Ihre Arbeiten versteht sie deshalb weniger als Zeichnungen, sondern als Denkmodelle oder Versuchsanordnungen, die bildhaft wirken. Dieses visuelle Regelwerk aus Geraden, Kurven, Zahlen, Wörtern und Collageelementen erlaubt ihr alles, was sie wahrnimmt, zum Bestandteil eines Notationssystems zu machen. Als konzeptuelle Setzungen sind sie einer Partitur vergleichbar und ermöglichen die Kommunikation. Jede Arbeit besteht aus einem Koordinatensystem, das einen Raum zwischen der Welt und der Künstlerin erschafft.

Ähnlich einer seismografischen Abschrift verleiht Voigt den Phänomenen, deren Ideengehalt oder abstrakten Begriffen eine bildliche Form. Dabei spielt der performative Aspekt der Handschrift, der frei gezogenen Linie innerhalb eines algorithmischen Ordnungsschemas, eine wichtige Rolle.

Gabriela Löffel, Genf und Bern
Die Schweizer Künstlerin (*1972) beschäftigt sich mit verborgenen Komponenten von staatlichen oder gesellschaftlichen Ordnungsformen. Durch Übersetzungsprozesse, Fragmentierung und sprachliche Verschiebungen geben ihre Arbeiten Einblicke in Mechanismen, die ein System teilweise erst ermöglichen und auf andere Bereiche ausdehnen.

Ausgehend vom Erlebnisbericht eines Kriegstouristen beschäftigt sich Löffel in der Mehrkanal Videoprojektion Offscreen (2012–2013, de 2014) mit der Kommerzialisierung von Krieg durch die Reisebranche und dem dialektischen Verhältnis von Krieg und Kino. Dabei interessiert sie sich, wie die Gesetzmässigkeiten bewaffneter Politik in unserem Alltag in Erscheinung treten und fragt, inwiefern diese durch die Bilderpolitik des Kinos produziert werden. Hierzu setzt sie den Reisebericht des Kriegstouristen, den sie von einem Schauspieler interpretieren liess, in Verbindung mit Videobildern von den Filmstudios Babelsberg in Potsdam.

In The Easy Way Out (2010) untersucht Gabriela Löffel anhand des alltäglichen Sprechens über Kriegserfahrung die Logik von staatlich organisierten Kriegseinsätzen im Ausland.
Löffel zeichnete dazu die Alltagsgespräche zwischen einem amerikanischen Soldaten, der soeben aus dem Irak zurückkehrte, mit einer lokalen Hotelbesitzerin und zwei Autoverkäuferin in der Nähe des us-amerikanischen Truppenübungsplatzes in Süddeutschland auf. Im Zentrum der Installation sind auf Leinwänden die drei DolmetscherInnen zu sehen, die die Künstlerin beauftragte, das aufgezeichnete Gespräche simultan aus dem Englisch ins Deutsche zu übersetzen.
In der frühen Arbeit Fallbeispiel (2006) geht es um fallende Körper, die dem Betrachter durch ihr unaufhaltsames Stürzen möglicherweise den geschützten Stand und seine Sicherheit entziehen. Die eigentliche Aktion des Sturzes ist im Bild ausgelassen. Sie wird jedoch durch die Tonspur wieder aufgenommen. Die Künstlerin hat die mit Kontakt- und Stethoskopmikrofonen aufgenommenen Körpergeräusche wie inneres Pochen, Vibrieren, Aufschlagen und Streifen durch Bearbeitung verfremdet.

AUSSTELLUNG
FR 13.05. – SO 26.06.

INVITES #1
02.06. | 19:30 UHR: Kunstsysteme | Heidi Brunnschweiler und Didem Yazici im Gespräch mit Gästen

ARTIST`S TALK JORINDE VOIGT
DO 16.06. | 20.00 UHR | Kammertheater

VORTRAG: „SYSTEM UND NETZWERK – ZUR UNMÖGLICHKEIT EINER UNTERSCHEIDUNG“
Do 23.06. | 19.30 UHR | Kammertheater
Mit Matthias Leanza, Universität Freiburg

ÖFFNUNGSZEITEN
Do & Fr 17 h – 20 h | Sa 14 h – 20 h | So 14 h – 18 h

EINTRITT frei

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